Das Thema der Obdachlosigkeit steht in vielerlei Hinsicht in Zusammenhang mit den Medien Film und Fotografie wie auch mit der Geschichte des Dokumentarischen. Mit der Industrialisierung und dem
rasanten Wachstum der Großstädte wurde Obdachlosigkeit seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Massenphänomen. Film und Fotografie entwickelten sich seit jener Zeit mit zunehmender technischen
Perfektionierung zu Massenmedien, denen dieses Phänomen von Anfang an nicht entgangen ist. In der Geschichte der Fotografie hat der Obdachlose seit Ende des 19. Jahrhunderts seinen festen Platz
(Eugène Atget, Jacob Riis). Und auch der frühe Film widmete sich dem Thema im Kontext der Auseinandersetzung mit sozialen Fragen (Le Chemineau (1905); Les Victimes de
l'alcoolisme (1902), A Drunkard's Reformation (1909)). Heute stößt man auf eine große Vielfalt medialer Erscheinungsweisen der Obdachlosigkeit – beispielsweise innerhalb des
investigativen Journalismus (Günter Wallraff), in Kunstmuseen (Martha Rosler, Boris Mikhailov) oder im Kino (draußen von Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht).
Die Gründe für die Thematisierung von Obdachlosigkeit sind vielfältig und reichen von Elends-Voyeurismus über aufklärende Absichten bis hin zu einer fundamentalen Kritik jener gesellschaftlichen
Verhältnisse, die Obdachlosigkeit hervorbringen.
Auf Grundlage der Auseinandersetzung mit vielfältigem konkreten Material wie auch der Erarbeitung einschlägiger theoretischer Positionen werden unterschiedliche Erscheinungsweisen von
Obdachlosigkeit in Film und Fotografie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart erkundet. Unter diesem spezifischen Fokus bietet das Seminar zugleich einen Einblick in zentrale Fragestellungen der
Geschichte und Theorie des Dokumentarischen.